Entwicklung der Landwirtschaft in der Grenzregion Gryfino/Gartz 1945-1990 und grenzübergreifende Kontakte
Entwicklung der Landwirtschaft in der Grenzregion Gryfino/Gartz 1945-1990 und grenzübergreifende Kontakte
Im Rahmen des Lehforschungsprojekts „Leben an der Grenze“ befasst sich Prof. Dr. Habeck (Universität Hamburg) mit der Geschichte der Landwirtschaft in der Region beiderseits der Grenze. Die Fragestellung lautet: welcher Art waren die Kontakte der landwirtschaftlichen Betriebe in der DDR und der VR Polen, speziell der Betriebe, die unmittelbar benachbart zu beiden Seiten der Grenze lagen? Um diese Frage zu beantworten, ist es nötig, die Entwicklung der Landwirtschaft auf beiden Seiten ab 1945 zu betrachten.
Grundlage der Analyse sind Interviews mit ehemaligen und heutigen Betriebsleitern und Angestellten sowie mit Regionalhistorikern. Bisher wurden Interviews in Gartz, Pargowo, Kamieniec, Mescherin, Staffelde und Ustowo bei Szczecin durchgeführt. Außerdem wurden Dokumente im Kreisarchiv Uckermark (Prenzlau) gesichtet und ausgewertet. Forschungen im regionalen Archiv in Szczecin sind für Oktober 2017 vorgesehen. Die ersten Ergebnisse, die hier kurz vorgestellt werden, sind also noch zu ergänzen.
Veränderungen im Grenzregime zwischen der DDR und der VR Polen (1950er-1980er Jahre)
Die leidvollen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, die Umsiedlungen und die Not der Nachkriegsjahre belasteten die deutsch-polnischen Beziehungen von 1945 bis in die 1970er Jahre. Eine Zusammenarbeit der landwirtschaftlichen Betriebe und ein intensiver Kontakt zwischen den Gemeinden zu beiden Seiten der neu gezogenen Grenze war politisch nicht gewollt und angesichts der elementaren Probleme der Nachkriegsjahre auch nicht vorstellbar. Während der 1950er und 1960er Jahre war die Grenze nahezu hermetisch geschlossen.
Erst ab 1972 entwickelte sich durch ein liberaleres Grenzregime ein gewisses Interesse am jeweiligen Nachbarn, wobei viele Fahrten über die Grenze in erster Linie Einkaufsfahrten waren. Offizielle Bekundungen der Völkerfreundschaft, beispielsweise am Tag der Arbeit (1. Mai), führten selten zu konkreten Begegnungen. In der Landwirtschaft bestand weitgehend Desinteresse am Nachbarn, was erklärt, warum die Erwähnungen von Kontakten (oder auch Problemen) an der Grenze in den Archiv-Dokumenten so spärlich sind.
Erntehelfer, Tauschbeziehungen und… unerwartete Grenzübertritte
Eine weitere Intensivierung der Beziehungen zeichnete sich Mitte der 1980er Jahre ab. Betriebe auf der deutschen Seite beschäftigten polnische Erntehelfer (aus nicht-landwirtschaftlichen Betrieben, vor allem aus den Städten) in den Sommermonaten auf Grundlage eines offiziellen Vertrags. Unter anderem wird der Einsatz polnischer Jugendlicher in Tantow und Staffelde in den Akten erwähnt. Überdies machten sich Angestellte der Betriebe auf der deutschen Seite einige Male auf den Weg nach Polen, um defizitäre Güter – z.B. Spezialdünger oder bestimmte Pflanzenschutzmittel – bei polnischen Kombinaten einzukaufen bzw. einzutauschen. Betriebsleiter auf der polnischen Seite waren an technischer Ausrüstung interessiert.
Sporadische Kontakte zwischen dem Staatsgut Pargowo und dem Volkseigenen Gut Staffelde ergaben sich, wenn Kühe aus eigenem Antrieb die Grenze in Richtung Polen überquert hatten. Dies geschah selten, aber doch mehrfach. In einem Fall gelang es den Tieren, den Grenzzaun direkt bei Staffelde niederzudrücken. Da es sich nicht um einzelne Tiere, sondern eine kleinere Herde handelte, waren man in Staffelde bemüht, die Kühe per Viehtransporter zurückzuholen. Diese Aktion führte dazu, dass sich die Mitarbeiter der beiden Landwirtschaftsbetriebe auf informelle Weise kennenlernen konnten.
Kontakte einzelner Personen bzw. Funktionsträger waren also insgesamt ganz konkreten Notwendigkeiten geschuldet und hatten informellen Charakter. Bis Mitte der 1990er Jahre hinein bestanden insgesamt relativ spärliche persönliche Verbindungen, erst in den folgenden Jahren – und besonders nach dem EU-Beitritt von Polen 2004 – verstärkte sich die Intensität der Kontakte im alltäglichen Bereich. Zu diesem Zeitpunkt kam der Landwirtschaft allerdings nicht mehr die identitätsstiftende Rolle zu, die sie bis in die späten 1980er Jahre für die meisten ländlichen Gemeinden auf beiden Seiten der Grenze gespielt hatte.
Fazit: Welche Rolle spielt die Erinnerung an die sozialistische Landwirtschaft?
Ein Ergebnis, das sich bisher nur andeutet, ist die unterschiedliche Intensität und soziale Bedeutung von Erinnerungen an die sozialistische Landwirtschaft. In den Gemeinden auf der deutschen Seite sind diese Erinnerungen offenbar stärker im öffentlichen Diskurs präsent als auf der polnischen Seite. Diese Hypothese gilt es während der weiteren Forschung zu überprüfen. Ein möglicher Erklärungsansatz ist die Beobachtung, dass die Ansiedlung von Betrieben und die Entwicklung des Arbeitsmarktes auf der polnischen Seite – in der Agglomeration von Szczecin – wesentlich dynamischer verlaufen als im Nordosten Deutschlands, wo scheinbar eine größere Tendenz besteht, die heutigen Lebensbedingungen an denen der Vergangenheit zu messen. Diese Tendenz verbindet sich mit der demographischen Entwicklung in den Gemeinden im Nordosten Deutschlands und der vielfachen Abwanderung von jungen Leuten in andere Regionen, so dass der Anteil von älteren Personen in den Dörfern auf der deutschen Seite höher ist als auf der anderen Seite der Grenze.