Fußball in der polnisch-deutschen Grenzregion
Fußball in der polnisch-deutschen Grenzregion
Cedric Horbach und Christoph Ladner, Studenten der Universität Hamburg, haben im Juli 2016 mehrere Fußballvereine in der Grenzregion besucht und mit Experten gesprochen, um der Frage nachzugehen, inwieweit Fußball (speziell Jugenfußball) ein transnationales Phänomen darstellt. Innerhalb weniger Tage konnten sie einen guten Überblick gewinnen. Schnell stellte sich heraus, dass Fußballtraining -- vielleicht mehr als alle anderen Aktivitäten -- Leute von beiden Seiten der Grenze zusammenbringt. Christoph Ladner hat im März 2017 weiter zu diesem Thema geforscht. Hier ist sein Bericht.
An Anfang gingen Cedric Horbach und ich mit vielen Fragen ins Feld. Wir wussten, dass wir uns auf den Fußball als transnationale Praxis in der polnisch-deutschen Grenzregion fokussieren würden. Auf welcher Ebene jedoch, war uns zu diesem Zeitpunkt unklar: Jugendfußball, Profifußball oder die lokale Fanszene?
Es gibt eine Reihe von polnischen Profispielern, die in die deutsche Bundesliga wechselten und dort weltweit bekannt wurden. Mit Robert Lewandowski und zwei weiteren polnischen Spielern wurde Borussia Dortmund 2011 deutscher Meister. Dieses Beispiel zeigt, in welchem Ausmaß die deutsche Liga von polnischen Spielern profitiert. In unserer Forschung entschieden wir uns, das Thema Jugendfußball in den Vordergrund zu stellen. Aus meiner eigenen Geschichte weiß ich jedoch, welchen Eindruck die großen Stars bei den Kindern hinterlassen.
Cedric und ich spielten beide als Jugendspieler in Vereinen. Wir sind beide Fans des FC St Pauli und stehen bei fast jedem Heimspiel im Millerntor. Dies erleichterte den Einstieg ins Feld immens, da wir mit den Leuten, mit denen wir in Kontakt kommen wollten, die gleiche Leidenschaft teilen. Manchmal kam es uns so vor, als ob sich das "Feld" uns aufdrängen würde. Kontakte werden bereitwillig weitergegeben. Sich wohl im Feld zu fühlen birgt jedoch auch die Gefahr, dass man von diesem "eingelullt" wird und damit vielleicht den Blick für das Kritische verliert.
Nachwuchs, Trainer, Plätze
Im regionalen Fußball verhält es sich ähnlich oder gleich. Spielerwechsel, länderübergreifende Freundschaftsspiele und Turniere gehören zum fußballerischen Alltag der Region, wobei das Ausmaß der Kooperation von Ort zu Ort variiert. Besonders die kleinen deutschen Fußballclubs, die mit rückgängigen Mitgliederzahlen zu kämpfen haben, profitieren durch die Verstärkung. Als einer der ersten Vereine bemühte sich Blau-Weiß Gartz schon in den 90er um polnische Spieler, da man sonst den Fußballbetrieb nicht mehr hätte aufrechterhalten können. Heute blickt man in Gartz wieder optimistischer in die Zukunft und teilt sich mit dem FC Schwedt auch die sportliche Vorreiterrolle in der Region. Viele Vereine in der Region sind trotzdem von der Existenz bedroht. Unter anderem verschwand Hertha Mescherin von der Fußballlandkarte. So lässt sich vermuten, dass die Möglichkeit zu Überleben von der Fähigkeit sich zu öffnen abhängt.
Der Sportplatz Mescherin hat die Hertha überdauert. Obwohl sich die Natur sein Teil zurückgefordert hat, nutzte 2016 eine Fußballakademie aus dem polnischen Nachbarort Gryfino das Spielfeld als Trainingsfläche. In der Akademie spielen hauptsächlich polnische Spieler, die nicht bei Energetyk Gryfino zum Einsatz kamen oder erst gar keinen Verein fanden. "Zu wenig Vereine, zu viele Spieler", fasst der Trainer von Sokół Pyrzyce die Situation auf der polnischen Seite zusammen. Bei Sokół kann sich der Trainer die besten Spieler aussuchen. Für die Spieler, die keinen Verein finden, ist die Situation weniger angenehm. Viele Spieler aus Gryfino, Widuchowa, Chojna treten heute in Gartz oder in Schwedt an.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es eine Vielzahl von Kooperationen auf regionaler Ebene gibt. Diese sind häufig regional bedingt und variieren. Die Zusammenarbeit wurde häufig aus der Not geboren, aber hat sich in einigen Fällen erstaunlich gut etabliert. Ein Grund für die funktionierende Zusammenarbeit ist die unterschiedliche Ausgangssituation auf beiden Seiten der Oder. Interessanterweise können für manche Probleme auf der einen Seite (Spielermangel) Lösungen auf der anderen Seite gefunden werden. Während es auf der polnischen Seite an Infrastruktur fehlt, sind in Mescherin und anderen Orten Fußballplätze "übrig". Der Sportplatz Mescherin wurde zu einer Metapher für unsere Forschung. Er repräsentiert, wie der lokale Fußball fast zum Erliegen kam und wie er heute durch das Engagement Einzelner wiederbelebt wird. Es entsteht auch ein Angebot für die Jugendlichen vor Ort, die keinen Verein in Mescherin mehr haben.
Vom Betriebssportverein zum transnationalen Fußballverein
Aus der Vereinssatzung des FC St Pauli geht hervor, dass der Fußball "ein Teil der ihn umgebenden Gesellschaft und somit auch mittelbar und unmittelbar von gesellschaftlichen Veränderungen in politischen, kulturellen und sozialen Bereichen betroffen" ist. Ich stimme meinem Lieblingsverein zu. Der Fußball und die Gesellschaft haben in der Grenzregion nationalspezifische Entwicklungen erlebt. Aber auf beiden Seiten gab es auch Gemeinsamkeiten. In den sozialistischen Nachbarstaaten war Fußball bis zur Wende betrieblich organisiert. Blau-Weiß Gartz hieß vor 1990 BSG Aufbau Gartz und Energetyk Gryfino trägt nach wie vor den Blitz im Wappen als Anspielung auf das nahegelegene Kraftwerk, das früher der größte Arbeitgeber der Stadt war. Ein großer Teil der Spieler von Tantow waren Grenzer, die an der nahen Grenze stationiert waren. Nach der Wende verließen nicht nur die Grenzer den SV Tantow, sondern allgemein viele Menschen die Region, da diese zunehmend mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen hatte.
Der demographische Rückgang im Nordosten der Uckermark hatte fatale Folgen -- auch für den Fußball. Der Fußball lebt von der Jugend, viele junge Leute verließen nach 1990 jedoch die Gegend mangels an Perspektiven. Keine Familien, keine Kinder, folglich auch kein Fußball. Auch der polnische Fußball litt in dieser Zeit. 1974 verfügte Polen noch über einer der besten Nationalmannschaften, in den 1990er Jahren war das Team in internationalen Turnieren nahezu bedeutungslos geworden.
Für die Region markiert das Jahr 2004 eine interessante Zäsur. Polen wurde Mitglied in der EU und das Überqueren der Grenze wurde durch den Wegfall der ständigen Passkontrollen erleichtert. Auf einmal war es möglich, in dem einen Land zu leben und in dem anderen Fußball zu spielen. Allerdings ist für die polnischen Spieler, die in Polen leben, aber in Deutschland Fußball spielen, das Pendeln mit einem hohen Kosten-und Zeitaufwand verbunden.
Mittlerweile sind viele polnische Familien nach Deutschland gezogen. Das relativ preisgünstige Angebot an Wohnraum in der Uckermark lockte u.a. Familien an, die es bevorzugten ihre Kinder im ländlichen Umfeld aufwachsen zu sehen. Die polnischen Spieler in den Altersklassen von der G- bis zur A-Jugend haben alle nach 2004 (also nach der Grenzöffnung) mit dem Fußballspielen begonnen. Daher kann die Forschung zum Fußball in mancher Hinsicht als eine Generationenforschung gesehen werden.
Besonders bei Jugendmannschaften kann beobachtet werden, dass die sprachliche Barriere in der Praxis des Fußballspielens eine untergeordnete Rolle spielt. Für den Anfang genügen wenige Begriffe, um auf dem Spielfeld agieren zu können, später lässt sich besser kommunizieren, weil man sich bereits kennt.
Das Wissen über den Nachbarn: Ungleichheiten in der Wahrnehmung
Wenngleich beide Seiten von der Grenzöffnung profitiert haben, so machen sich in manchen Bereichen auch Disbalancen bemerkbar. Die meisten Polinnen und Polen haben ein relativ konkretes Bild von Deutschland, da Familienangehörige, Verwandte und Freunde in Deutschland gearbeitet und gelebt haben. Auf deutscher Seite kann man eher ein latentes Desinteresse gegenüber dem östlichen Nachbarn erkennen. Die wenigsten Deutschen sprechen Polnisch. Dagegen verfügt eine relativ große Zahl von Polen in der Grenzregion über Deutschkenntnisse. Solche Asymmetrien haben wir auch im Wissen über Vereine, Spiele und Tabellen im jeweiligen Nachbarland beobachtet. Polnische Fußball-Interessierte schauen auch Spiele der deutschen Bundesliga. Hingegen gibt es über das polnische Äquivalent, die Ekstraklasa, auf der deutschen Seite fast gar kein Wissen.
Dies sind einige Ergebnisse der ersten Forschungsphase. Ich plane, das Thema in den folgenden Monaten weiter zu verfolgen. „Vor dem Spiel ist vor dem Spiel“ – nach der Forschung ist vor der Forschung.