Kulturelle Identität in der Diaspora
Vorbemerkungen
Dieses Projekt entsteht im Rahmen eines langfristigen Forschungs- und Lehrschwerpunktes Interethnische Beziehungen am Institut für Ethnologie der Universität Hamburg. Ein Teilprojekt dieses Schwerpunktes betrifft die Frage nach der Konstruktion und Erhaltung kultureller Identität unter den Bedingungen von Exil und Diaspora.
Die Unsicherheit oder Unmöglichkeit einer Rückkehr und die Probleme der Erhaltungkultureller Gemeinsamkeit unter den verschiedenartigen Bedingungen unterschiedlicher Gastländer stellen besondere Anforderungen an eine Kultur der Diaspora (Dabag, Platt 1993; Dabag 1995). Die Situation der Diaspora bietet über dies ein Untersuchungsfeld für die Analyse kultureller Prozesse außerhalb von nationalen und lokalen Begrenzungen (Tölölian 1991; Clifford 1995; Knight 1994). Bisher liegen von ethnologischer Seite nur wenige Untersuchungen zu den spezifischen Bedingungen der Diaspora und des Exils vor (Loizos 1981; Lehmann 1991; Camino, Krulfeld 1994). Ein Ziel des geplanten Projekts ist es, auf der Grundlage vergleichend angelegter Fallstudien zu einer allgemeinen Theorie von Exil und Diaspora beizutragen. Forschungsleitende Frage ist dabei: welche kulturellen Ressourcen und Strategien werden entwickelt (bzw. eingebracht), um ein Überleben als Gruppe und die Erhaltung kultureller Identität zu gewährleisten?
Eine theoretische Aufgabe liegt in der Abgrenzung von Exil und Diaspora zu anderen Formen der Migration und Kolonienbildung. Für die Zwecke dieses Projekts soll die Definition nicht nach dem zugeschriebenen politischen Status der Personen oder den Migrationsgründen erfolgen, sondern aufgrund der jeweilig subjektiven Wahrnehmung der Situation: Unter Exil" verstehen wir den Aufenthalt in einer als fremdwahrgenommenen Umgebung, dessen Anlaß nicht als freiwillige Entscheidungwahrgenommen wird und dessen zeitliche Dauer nicht der eigenen Kontrolle unterliegt. Das heißt: Menschen im Exil können - zumindest in ihrer eigenen Wahrnehmung - nicht zurück.
Kulturelle Identität bildet sich immer in Interaktion mit der jeweiligen Umgebung bzw. einem als anders wahrgenommenen Gegenüber. Der Faktor der Fremdheit spielt in der Erfahrung des Exils eine entscheidende Rolle. Um die unbestimmte Möglichkeit der Rückkehr nicht ganz aus den Augen zu verlieren, muß einsymbolischer Bezug zur "Heimat" immer neu konstruiert werden. Ein primäres Mittel dazu ist die Konstruktion von Geschichte, und die Erfindung und Vitalisierung gemeinsamer Traditionen.
Nicht alle Menschen im Exil sind im engeren Sinne Flüchtlinge. Im Exil geborene Kinder und Enkel haben die traumatischen Ereignisse der Flucht nicht selbst erlebt. Dennoch teilen sie die Erfahrung des nicht-freiwillig-in-der-"Fremde"-Lebens. Es bliebe in diesem Zusammenhang beispielsweise zu klären, in wie weit Geschichten über die Flucht und den Neuanfang als Erzählmuster über Generationen tradiert werden und somit auch für die Kinder und Enkel identitätsstiftendendwirken (vgl. Lehmann 1991, Kokot 1995).
Für einige Diasporagruppen gibt es keinen gemeinsamen Herkunftsort, weil die Zerstörung des Zentrums, das sie als Heimat definieren könnten, schon zu weit zurück liegt. Beispiele für solch langdauernde Diaspora sind jüdische oder armenische Gemeinden. Für beide Gruppen stellt sich heute nach langem Exil eine besondere Situation: es existiert wieder ein Land, das den Anspruch erhebt, die "verlorene Heimat" zu sein. Israel und die 1991 neu gegründete Republik Armenien sind aber nur für einen Teil der jeweiligen Ethnie eine echte Alternative zur Diaspora. Ein Thema in der Konstruktion einer Kultur des Exils ist immer die Frage nach der Beziehung zu dieser "Heimat", inder man nicht lebt. Oft bestehen divergierende und konfligierende Modelle darüber, die von verschiedenen Interessengruppen mit dem Anspruch vertreten werden, die eigentliche Identität zu definieren und damit Führungsrollen zu übernehmen.
Diasporakulturen sind Formen von transnationaler Kultur, sie überspannen nationale Grenzen und stellen sie damit in Frage (Clifford 1995). Es entsteht eine Dreiecksbeziehung zwischen Herkunftskultur oder wahrgenommener "Heimat", der jeweiligen Umgebung und den übrigen Diasporagemeinden, deren Geschichte und Situation so unterschiedlich sein kann, daß auch sie als "fremd" wahrgenommen werden.
"Ethnizität" und "kulturelle Identität" in der Diaspora
Das Projekt steht im Kontext der ethnologischen Ethnizitätsforschung, wenn auch zu erwarten ist, daß die Kategorien der Selbst- und Fremdwahrnehmung in Exil- und Diasporagemeinden nicht nur aus der Zugehörigkeitzu einer "ethnischen" Gruppe abgeleitet werden (Talai 1989; Dabag, Platt 1993; Tölölian 1993). Die theoretische Diskussion zur Ethnizität wird vorwiegend von der Frage nach der Entstehung von Gruppenidentität in bestimmten historischen Konterten und der spezifischen Dynamik der Zuschreibung von unterscheidungsrelevanten Merkmalen geleitet. Die Herausbildung von ethnischer Identität kann dabei als ein Sonderfall im umfassenderen Prozeß der Bildung von Gruppenidentitäten gesehen werden. Als Arbeitsterminus soll daher hier allgemeiner von "kultureller Identität" gesprochen werden (vgl. auch Kokot 1995: 9ff).
In diesem Sinne wird hier die Identität einer Gruppe nicht als objektiv existierende Einheit, sondern als subjektiv bzw. situationsabhängig gesehen. Die Herausbildung von Gruppenidentitäten ist immer in Interaktion mit und in Abgrenzung zu anderen Gruppen zu verstehen. Identitätsstiftende Merkmale und Kategorien der Selbst- und Fremdwahrnehmung sind folglich keine festen Größen, sondern können je nach Situation und dem jeweiligen Gegenüber variieren bzw. neugeschaffen werden. Abhängig vom jeweiligen Kontext sind ethnische bzw. Gruppenidentitäten damit flexibel, dynamisch und einem ständigen Prozeß der sozialen Konstruktion unterworfen.
Im vorliegenden Projekt steht die individuelle Ebene, d.h. die Frage nach Konzepten und Vorstellungen überIdentität und Gruppenzugehörigkeit in der Diaspora im Mittelpunkt desInteresses. Strukturelle und historische Daten über die untersuchten Gemeinden bilden jedoch den notwendigen Rahmen für das Verständnis von Selbst- und Fremdzuschreibungen. Ein wesentlicher Bestandteil der Untersuchung ist daher die Aufarbeitung von historischem Material zur Entwicklung der Gemeinden und die Analyse ihrer sozialen Organisation.
Bei aller Betonung der dynamischen, prozeßhaften Seite in der Bildung von Gruppenidentitäten darf aber keinesfalls übersehen werden, daß in diesem Sinne definierte soziale Gruppen über einen gemeinsamen Bestand an kulturellen Modellen verfügen können, der über die Zeit stabil bleibt und der wiederum zur Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen herangezogen werden kann. Eine wichtige Rolle spielen hierbei Stereotype der Selbst- und Fremdwahrnehmung als Kategorien der Definition und Abgrenzung. Ein besonderes Interesse liegt daher auf der Frage nach der Interaktion der Diasporagemeinde mit der umgebenden Gesellschaft.
Vorarbeiten
Die Vorarbeiten zu diesem Projekt gehen auf frühere Forschungen zur kulturellen Identität in einem Flüchtlingsviertel von Thessaloniki zurück. Nach der Untersuchung von kulturellen Modellen zur ethnischen Identität und Prozessen der sozialen Abgrenzung am Fall kleinasiatischer Flüchtlinge in Griechenland erweiterte sich mein Forschungsinteresse auf einen Vergleich von Prozessen der Identitätsbildung in unterschiedlichen Diasporagemeinden.
Aspekte eines allgemeinen Ansatzes zur Ethnologie von Flucht und Exil habe ich in mehreren Vorträgen an unterschiedlichen Fallbeispielen (Griechen, Iraner, Armenier) dargestellt.
Seit dem WS 1994/95 leite ich im Institut fürEthnologie der Universität Hamburg ein fortlaufendes Forschungsseminar zum Thema "Ethnologie von Exil und Diaspora", das sich mit ethnographischen Fallbeispielen und Beiträgen zu einer allgemeinen Theorie von Diaspora und Exil auseinandersetzt.
Zitierte Literatur
Clifford, James 1995: Diasporas. In: Cultural Anthropology, 9,3:302-338.
Camino, Linda A.; Ruth M. Krulfeld 1994: Reconstructing Lives, Recapturing Meaning. Refugee Identity, Gender, and Cultural Change. Basel
Dabag, Mihran; Kristin Platt 1993: Diaspora und das kollektive Gedächtnis. Zur Konstruktion kollektiver Identitäten in der Diaspora. In: Dabag, Platt (Hg.): Identität in der Fremde. Bochum. 117-145.
Dabag, Mihran 1995: Die armenische Minderheit. In: Schmalz-Jacobsen, C.; Hansen (Hg.): Ethnische Minderheiten in der Bundesrepublik Deutschland. EinLexikon. München: 61-70.
Knight, John 1994: Questioning Local Boundaries. A Critique of the "Anthropology of Locality". In: Ethnos 59,3-4: 213-231.
Kokot, Waltraud 1995: Kognition und soziale Identität in einem Flüchtlingsviertel: Kato Toumba, Thessaloniki. Köln: unpubl. Habilitationsschrift.
Lehmann, Albrecht 1991: Im Fremden ungewollt zuhaus. Flüchtlinge und Vertriebene in Westdeutschland 1945-1990. München.
Loizos, Peter 1981: The Heart Grown Bitter: A Chronicle of Cypriot War Refugees. Cambridge.
Tolai, Vered Amit 1989: Armenians in London. The Management of Social Boundaries. Manchester, New York.
Tölölian, Khachig 1993: Traditionelle Identität und politischer Radikalismus in der armenischen Diaspora. In: Dabag, Platt (Hg.): 192-219.
- Dauer: 1996-2001
- Projektleitung: Prof. Dr. Waltraud Kokot